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Lisa Schmidt: Praktikum am Goethe-Institut Moskau, Abteilung Information und Bibliothek

Im Rahmen meines Praktikums in der Bibliotheks- und Informationsabteilung des Goethe-Instituts Moskau hatte ich die Möglichkeit an einer Vielzahl von Kinder- und Jugendbildungsprojekten aktiv mitzuwirken. Darunter war die Ausstellung Mit 70 Karten um die Welt – Kartographische Fundstücke der Kinder und Jugendliteratur aus drei Jahrhunderten, eine Wanderausstellung der Jugendbibliothek München, welche um eine russischsprachige Version ergänzt werden sollte. Meine Aufgabe waren der Abgleich und die Recherche der russischsprachigen Werkübersetzungen und deren Zusammentragung für die Ausstellung. Das Projekt hatte den Anspruch, den Besucher*innen komplexe Inhalte in künstlerischer Form näherzubringen. Besonders interessant war an dieser Stelle die Möglichkeit der Über-Setzung partiell allgemeingesellschaftlicher und politischer Inhalte, wie beispielsweise durch das Werk Mauer von Peter Sís.

Meine größtenteils organisatorische Arbeit im Rahmen der Ausstellung wurde durch die selbstständige Leitung eines Diskussions- und Leseklubs ergänzt. Letzterer sollte den Schwerpunkt meines Praktikums bilden und fand in einem zweiwöchigen Turnus in der Bibliothek des Goethe-Instituts statt. Es muss im Vorfeld erwähnt werden, dass die im Folgenden beschriebene, letzte Lektüresitzung aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte.

Bibliothek des Goethe-Instituts Moskau (© Goethe-Institut Moskau)

Bibliothek des Goethe-Instituts Moskau (© Goethe-Institut Moskau)

Bibliothek des Goethe-Instituts Moskau (© Goethe-Institut Moskau)

Der von mir übernommene Leseklub strebte eine interkulturelle Literaturvermittlung an, was insbesondere im Rahmen der thematischen Vorüberlegung und bei der Auswahl eines passenden Werkes von Bedeutung war. Es sollte darum gehen, kulturelle Überschneidungssituationen zu erfassen und im Rahmen eines gemeinsamen, interkulturellen Diskurses weiterzuverfolgen und zu kontextualisieren. Zu Beginn meiner Leitungstätigkeit ging es zuallererst darum, den notwendigen Diskursrahmen aufzubauen, insbesondere in Bezug auf meine eigene Position als Leiterin des Lektürekreises. Mein Ziel war es, unter Einbezug meiner Erfahrungen im alltäglichen deutsch-russischen Fremdheits-, Interkulturalitäts- und Toleranzdiskurs eine antiautoritäre Leitungsrolle einzunehmen und eine freie Diskussion über gesellschaftliche und politische Themen zu ermöglichen. Die Abschlusssitzung sollte die Besprechung von Angela Steideles historischem Roman Rosenstengel bilden, welcher das Thema der weiblichen Homosexualität aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts heraus aufgreift.

Das Thema der weiblichen Homosexualität kann in der Russischen  Föderation einem unaufgeklärten und tabuisierten Themenbereich  zugeordnet werden, welcher durch die Ermittlung einer kulturellen  Zwischenposition zum Gegenstand des gemeinsamen Nachdenkens gemacht  werden sollte. Dabei bieten die vielschichtigen Rezeptionsmöglichkeiten  des Werkes einen passenden thematischen Rahmen, da die Tabuisierung des  Themas durch den historischen Kontext der literarischen Geschehnisse,  die Aufklärung und den Pietismus inkludierend, entschärft werden kann.  So wie sich die Protagonistin des Werkes als Mann maskiert, so kann auch  das Werk als eine Art Maskerade für die Anleitung zu einer Diskussion  über weibliche Homosexualität gesehen werden.

Cover und Backcover von Angela Steideles Rosenstengel, Matthes & Seitz Berlin (© Stefan Mesch)

Cover und Backcover von Angela Steideles Rosenstengel, Matthes & Seitz Berlin (© Stefan Mesch)

Cover und Backcover von Angela Steideles Rosenstengel, Matthes & Seitz Berlin (© Stefan Mesch)

Mit Blick auf die erwähnte Tabuisierung weiblicher Homosexualität sollte betont werden, dass der Gesprächsraum der Bibliothek frei gestaltet war und Ausweichräume bot, wie beispielsweise Tee- und Sitzecken, welche im Rahmen der beschriebenen Diskussion als Entschärfungsmechanismen genutzt werden sollten. Es sollte klar werden, dass das Thema keine Provokation darstellt, sondern vielmehr eine Möglichkeit zur Anwendung der interkulturellen Literaturanalyse als Grundlage für eine Diskussion über einen tabuisierten Themenbereich bietet.

Der Diskussion sollte eine Unterscheidung von Sex und Gender zugrunde liegen, Begriffe, welche im Vorfeld erläutert und eingeordnet und weiterführend im Rahmen einer interkulturellen Betrachtung festgesetzt werden sollten. Hierbei sollten sowohl religiöse, als auch rechtliche Sanktionen von Homosexualität aufgegriffen werden.

Die Zielsetzung einer solchen Themenwahl setzte sich aus einer grundlegenden Sensibilisierung für die Thematik und dem tiefgreifenden Anspruch der Übertragung des historischen Epochenbegriffs der Aufklärung und der im Werk thematisierten Homosexualität auf zeitgenössische Auffassungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen im interkulturellen Kontext zusammen. Zudem sollte der Erwerb diskursiver Kompetenzen im Rahmen von Literaturkritik und Kulturanalyse gefördert werden. Einen weiteren bedeutenden Interessenschwerpunkt barg zudem die spezifisch russische Perspektive auf den Themenbereich und die Frage danach, wie die westeurozentristisch ausgerichtete Literaturanalyse und Kulturkritik von einem osteuropäischen Standpunkt betrachtet werden könnte.

Wie bereits erwähnt, konnte die Sitzung aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Der Leseklub wurde zwar aus dem Home-Office weitergeführt, die Thematik erforderte jedoch ein persönliches und vertrauliches Gespräch vor Ort. Es kann jedoch festgehalten werden, dass ich bei den schon durchgeführten Veranstaltungen im Rahmen des Diskussions- und Leseklubs ein vielseitiges Interesse und eine umfassende Diskussionsbereitschaft erlebt habe, auch im Kontext komplexer Themen. Durch meine sprachliche Unterstützung und vorgefertigte Vokabellisten ist es uns gelungen, über politische und gesellschaftliche Themen zu diskutieren, beispielsweise ein utopisches Stadtprojekt auszuarbeiten und den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2017 gemeinsam zu durchlaufen. In Bezug auf die ausgearbeitete Sitzung zum Rosenstengel muss jedoch betont werden, dass die Rechtslage in der Russischen Föderation, explizit das Verbot homosexueller Propaganda, eine Umsetzungshürde hätte darstellen können. Doch eben die freie und persönliche Diskussionsmöglichkeit im Diskussions- und Leseklub hatte bis dahin gezeigt, dass die Teilnehmer*innen durchaus bereit sind, über derartige Sanktionen hinwegzusehen.

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