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Lukas Weiser: Praktikum am Gleimhaus Halberstadt

Das Praxis-Projekt meines Kulturen-der-Aufklärung-Studiums absolvierte ich im August 2022 im Gleimhaus Halberstadt    bei Frau Dr. Ute Pott. Beim Gleimhaus handelt es sich um ein Literaturmuseum und -archiv, das sich dezidiert mit der deutschen Aufklärung befasst und über reiche Bestände zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts verfügt. Seine historischen Wurzeln reichen selbst ins 18. Jahrhunderts zurück, als die Sammlung vom Literaturnetzwerker Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) angelegt wurde, in dessen einstigem Wohnhaus die Institution heute untergebracht ist.

Im Zentrum meines Praxis-Projekts stand eine bislang noch nicht untersuchte Handschrift aus den Beständen des Gleimhauses: Ich befasste mich mit einem handschriftlich beschriebenen Büchlein aus der Hand des Dichters, Übersetzers, Philologen und Lehrers Johann Heinrich Voß (1751–1826), das eine vollständige deutsche Übersetzung des altgriechischen Idyllendichters Theokrit (3. Jhdt. v. Chr.) enthält. Meine Aufgabe war es also, dieses noch nicht bearbeitete Artefakt aus dem 18. Jahrhundert literatur- und kulturhistorisch zu kontextualisieren. Hierfür bin ich verschiedene Wege angegangen, die ich aber in den fünf Wochen meines Praxis-Projekts nicht erschöpfend zu Ende führen konnte. Es können hier also nur erste Andeutungen einer Einordnung dieser Handschrift gemacht werden.

Porträt von Johann Heinrich Voß (1751–1826) im Gleimhaus Halberstadt
gemalt von Georg Friedrich Adolf Schöner, 1797

Porträt von Johann Heinrich Voß (1751–1826) im Gleimhaus Halberstadt gemalt von Georg Friedrich Adolf Schöner, 1797

Porträt von Johann Heinrich Voß (1751–1826) im Gleimhaus Halberstadt
gemalt von Georg Friedrich Adolf Schöner, 1797

Zunächst ist Johann Heinrich Voß sowohl zeitgenössisch als auch wirkungsgeschichtlich besonders für seine charakteristische Übersetzungssprache bekannt, die er in Auseinandersetzung mit der griechischen und römischen Dichtung erarbeitet hat. Seine Übersetzungssprache hat daher schon seit Langem das Interesse der Forschung geweckt. Da der Idyllendichter Theokrit ein wichtiger Bezugspunkt in Voß' literarischem Schaffen ist, könnte es lohnenswert sein, die Halberstädter Theokrit-Übersetzung in Hinblick auf ihre Übersetzungssprache in Auseinandersetzung mit dem griechischen Original zu untersuchen – das habe ich im Rahmen meiner fünf Wochen in Halberstadt jedoch noch nicht gewinnbringend leisten können.

Die Datierung auf der Titelseite der Halberstädter Theokrit-Handschrift ermöglicht zudem eine lebensweltliche Kontextualisierung: „übersezt von Johann Heinrich Voß / Halberstadt den 7ten Junius / 1796“, wodurch wir auf die Freundschaft zwischen Gleim und Voß verwiesen werden. Besonders in den 1790ern und um 1800 standen die beiden Literaten sich nahe und pflegten einen intensiven Briefwechsel. Da Voß zu dieser Zeit im norddeutschen Eutin lebte, war er auf mehrere Reisen von Eutin nach Halberstadt angewiesen, um seinen Freund sehen zu können. Aus unseren Kenntnissen zur Voß-Biographie können wir rekonstruieren, dass Voß sich am 7. Juni 1796 tatsächlich bei Gleim in Halberstadt aufgehalten hat.

Für mich galt es nun, im Briefwechsel von Voß und Gleim nach Hinweisen auf das Theokrit-Manuskript zu suchen. Tatsächlich kommt eine Stelle vom 11. September 1796 in Frage, als Voß an Gleim schreibt: „Der Almanach ist fertig, so bald er abgedruckt ist, bekommen Sie Exemplare. Dann kömmt auch der Theokrit mit“. Diesen Brief schreibt Voß also 3 Monate nach dem Besuch bei Gleim. Die Datierung auf der Titelseite besagt anscheinend nur, dass Voß das Manuskript am 7. Juni bei Gleim in Halberstadt begonnen hat, ohne es jedoch bis zu seiner Abreise am 9. Juni fertiggestellt zu haben; er hat es anscheinend zurück nach Eutin mitgenommen und dort erst fertiggestellt, um es dann bei der nächsten Gelegenheit an Gleim zurückzuschicken. Es müssten aber noch weitere Briefe aus diesem Zeitraum in Betracht gezogen werden, um die Deutung dieser Briefstelle zu erhärten.

Schließlich bin ich ebenso der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis die Halberstädter Handschrift zu anderen erhaltenen Theokrit-Übersetzungen von Voß steht. Während der griechische Idyllendichter immer wieder ein wichtiger Bezugspunkt für Voß war, ist es geradezu überraschend, dass Voß erst 1808 eine vollständige Theokrit-Übersetzung im Druck veröffentlichte. Voß hat jedoch schon lange zuvor an Theokrit-Übersetzungen gearbeitet und etwa schon ab den frühen 1780ern einzelne ins Deutsche übertragene Idyllen publiziert. Bereits 1796 dürfte der Zeitpunkt gewesen sein, an dem Voß erstmals eine vollständige Übersetzung aller Theokrit-Idyllen abgeschlossen hatte und bereit war, sie in den Druck zu geben, wie aus folgendem Zitat des Herausgebers vom Genius der Zeit (Juni 1796) hervorgeht:

August Adolph von Hennings, Herausgeber der Zeitschrift 
‚Genius der Zeit‘
Genius der Zeit, 6. Stück, Juni 1796, S. 669–670.
Digitalisat angefertigt von der Universitäts- und 
Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

August Adolph von Hennings, Herausgeber der Zeitschrift ‚Genius der Zeit‘ Genius der Zeit, 6. Stück, Juni 1796, S. 669–670. Digitalisat angefertigt von der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

August Adolph von Hennings, Herausgeber der Zeitschrift
‚Genius der Zeit‘
Genius der Zeit, 6. Stück, Juni 1796, S. 669–670.
Digitalisat angefertigt von der Universitäts- und
Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

Das ist also genau der zeitliche Kontext, in den die Halberstädter Handschrift fällt. Das Vorhaben einer Drucklegung um 1796 führte Voß jedoch nicht aus, auch wenn es zu vielen Einzelveröffentlichungen der übersetzten Idyllen in verschiedenen Zeitschriften kam. In der Buchfassung von 1808 kam es dann verglichen mit der Halberstädter Fassung von 1796 wiederum zu Umarbeitungen.

Um die Handschrift auch neben diesen Druckpublikationen besser verorten zu können, habe ich im Rahmen des Projekts erschlossen, welche weiteren handschriftlichen Überlieferungen zu Voß' Theokrit-Übersetzungen erhalten sind. Neben mehreren kleineren Handschriften, die nur vereinzelte Idyllen enthalten, befindet sich im Voß-Nachlass der Bayerischen Staatsbibliothek in München eine weitere vollständige Handschrift der vossischen Theokrit-Übersetzungen.

Nach vollständiger Transkription der Halberstädter Handschrift habe ich zu ausgewählten Idyllen Synopsen aller Handschriften- wie Druckfassungen erstellt, um die Fassungen einordnen zu können. Dabei bestätigte sich: 1796 gab es bereits eine stabile Fassung der vossischen Theokrit-Übersetzung, die Voß in verschiedenen Kontexten verwendete (beispielweise auch, wenn er in anderen Publikationen Theokrit zitierte), auch wenn diese Fassung nicht als kohärentes Ganzes im Druck veröffentlicht wurde.

Der Münchner Handschrift kommt eine interessante Stellung zu, weil sie in der Grundschicht die 1796er-Fassung zeigt, später aber zur 1808er-Fassung überarbeitet wurde. Es handelt sich damit um eine Arbeitshandschrift.

Vor dieser Folie lässt sich zudem die Eigenart der Halberstädter Handschrift besser begreifen: Mit der sauberen Handschrift und nur wenigen Korrekturen, in der kompakten Buchform, sogar mit einem handschriftlichen Inhaltsverzeichnis, kommt ihr geradezu Werkcharakter zu.

Voß' Halberstädter Theokrit-Manuskript
Handschriftliches Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches

Voß' Halberstädter Theokrit-Manuskript Handschriftliches Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches

Voß' Halberstädter Theokrit-Manuskript
Handschriftliches Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches

Mit dieser Handschrift hat sich also eine kohärente Fassung von Voß' Theokrit-Übersetzung von 1796 erhalten, die neben die überarbeitete Druckfassung von 1808 tritt. Sie verdeutlicht, dass Voß' Großprojekt einer Theokrit-Übersetzung nicht auf nur ein einziges abgeschlossenes Werk hinausläuft, sondern über einen langen Arbeitsprozess beweglich bleibt.

Auch aus Gleims Briefen selbst geht hervor, dass er in seinem Freundeskreis Handschriften mit Werkcharakter sammeln wollte, und dass ihm die Einrichtung einer Handschriften-Bibliothek vorschwebte. Der Theokrit von 1796 könnte Voß' Beitrag zu dieser Handschriften-Bibliothek gewesen sein.

Mein Praxis-Projekt in Halberstadt empfand ich aus verschiedenen Gründen als wertvoll: Ich hatte einen sinnvollen Arbeitskontext, um eigentätig bislang nicht edierten Textüberlieferungen nachzuforschen. So habe ich einerseits in methodischer Hinsicht gelernt, wie bei der Recherche nach Textzeugen vorzugehen ist; andererseits habe ich an einem konkreten Beispiel exemplarisch gelernt, wie eine handschriftliche Überlieferungssituation zu Texten aus dem 18. Jahrhunderts beschaffen sein kann. Und schließlich habe ich durch einen konkreten Gegenstand, der mich interessierte, endlich gute Rahmenbedingungen vorgefunden, mir flüssige Lektüre-Fähigkeiten in Kurrent anzueignen. Mit dem Gleimhaus habe ich schließlich eine Institution kennengelernt, an der reiches materielles Erbe der deutschen Aufklärung nicht nur erhalten ist, sondern an der durch vielfältige Aktivitäten auch eine lebendige Vermittlung dieses Erbes stattfindet.

Ich danke Frau Dr. Pott für die fachkundige und aufgeschlossene Betreuung sowie dem gesamten Team des Gleimhauses für die freundliche Aufnahme. Restauratorin Stefanie Volmer danke ich für die eingehende buchwissenschaftliche Besprechung meines Gegenstandes.

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