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Anika Holtkamp: Praktikum im Studienzentrum August Hermann Francke

Ich habe mein Projektpraktikum im Rahmen des Moduls zur materiellen Kultur der Aufklärung an den Franckeschen Stiftungen zu Halle absolviert. Dort habe ich im Studienzentrum August Hermann Francke    umfangreiche Recherchen zur Gattung „Letzte Stunden“ betrieben, wobei sich der Schwerpunkt im Laufe des Praktikums auf die „Letzten Stunden“ von Kindern verlagerte.

Die Gattungsbezeichnung lässt zwar vermuten, dass sich die Niederschrift auf die letzten Lebensmomente einer Person beschränkt, in vielen Fällen handelt es sich aber um einen weit gefassten Begriff. Zwar wird hier – anders als in den meisten Exempelgeschichten – nicht nur das vorbildliche gottgefällige Leben, sondern auch das Sterben in den Blick genommen, letztendlich ist die Intention beider Gattungen jedoch ähnlich: die allgemeine Vermittlung frommen Verhaltens, das zur Nachahmung anregen soll. Somit wird insbesondere jungen Leserinnen und Lesern aufgezeigt, welche Verhaltensanforderungen sie erfüllen müssen, um göttliche Gnade zu erfahren und nach dem Tod das ewige Leben im Jenseits genießen zu können. Das Leben und Sterben muss demnach gewissen Mustern folgen und bestimmte Kriterien erfüllen, welche in den Berichten vermittelt werden. Gerade den Kindern wird dabei eine spezielle Rolle zugeschrieben, da sie – im Gegensatz zu Erwachsenen – noch den ,göttlichen Funken‘ in sich tragen und demnach eine besonders vorbildhafte Frömmigkeit vermitteln.

Meine erste Aufgabe bestand darin, die 243 deutschsprachigen Dokumente, die sich in der Kollektion „Handschriften/Autographen“ der Digitalen Sammlungen des Studienzentrums    unter dem Gattungsbegriff „Letzte Stunden“ finden lassen, zu sichten und herauszufiltern, in welchen dieser Handschriften sich die Autorinnen und Autoren zu den (Lebens- und) Sterbeverläufen von Kindern äußern. Letztendlich konnte somit eine Anzahl von zehn Kindern ermittelt werden, deren „Letzte Stunden“ handschriftlich festgehalten wurden. Neben der analytischen Erfassung von Geburts- und Sterbedaten sowie Geschlecht und Herkunft der Kinder, habe ich mich auch mit der Transkription von fünf ausgewählten Handschriften beschäftigt. Diese konnte ich nach dem Transkribieren mithilfe der Desktop-Applikation Visual Library Manager (VLM3) in die Digitalen Sammlungen des Studienzentrums einspeisen.

Abbildung 1: Eine Seite aus den „Letzten Stunden“ von zwei 
verstorbenen Kindern – links das Original, rechts die 
Transkription. © Franckesche Stiftungen

Abbildung 1: Eine Seite aus den „Letzten Stunden“ von zwei verstorbenen Kindern – links das Original, rechts die Transkription. © Franckesche Stiftungen

Abbildung 1: Eine Seite aus den „Letzten Stunden“ von zwei
verstorbenen Kindern – links das Original, rechts die
Transkription. © Franckesche Stiftungen

Die Transkription habe ich unter Einhaltung bestimmter Regeln vorgenommen. Die Texte sollen möglichst originalgetreu wiedergegeben werden, daher richten sich die Seitenformatierung und der Lautstand sowie die Groß- und Kleinschreibung und die Zeichensetzung vollständig am Originaldokument aus. Auch einfache oder mehrfache Unterstreichungen, Wortstreichungen, Zahlzeichen oder Eigennamen werden übernommen. Doppelte Schrägstriche kennzeichnen Ergänzungen des Verfassers oder der Verfasserin, während eckige Klammern Zusätze bzw. Ergänzungen der Person, die den Text bearbeitet, markieren. Ebenso habe ich die in den „Letzten Stunden“ vorkommenden Personennamen mit den Einträgen im Bio-bibliographischen Register    getaggt. Dieses Register enthält kurze Biogramme der jeweiligen Personen und ist wiederum mit den weiteren Handschriften dieser Personen verknüpft. Grundsätzlich können die transkribierten Texte Wort für Wort durchsucht werden.

Neben handschriftlichen Überlieferungen befasste ich mich auch mit gedruckten Erzeugnissen. Dabei habe ich drei Werke der Erbauungsliteratur genauer analysiert: Graf Erdmann Heinrich Henckel von Donnersmarcks (1681-1752) Die letzten Stunden […], Johann Jacob Rambachs (1693-1735) Erbauliches Handbüchlein für Kinder sowie Traugott Immanuel Jerichows (1696-1734) Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes, das ab 1735 von Johann Adam Steinmetz (1689-1762) weitergeführt und ab 1745 unter dem Titel Closter-Bergische Sammlung Nützlicher Materien Zur Erbauung im Wahren Christenthum veröffentlicht wurde.

Abbildung 2: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1750) von Johann Jacob Rambach. Vollständig digitalisiert zu finden unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN805318607 [letzter Zugriff: 11.09.2023].

Abbildung 2: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1750) von Johann Jacob Rambach. Vollständig digitalisiert zu finden unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN805318607 [letzter Zugriff: 11.09.2023].

Abbildung 2: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1750) von Johann Jacob Rambach. Vollständig digitalisiert zu finden unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN805318607 [letzter Zugriff: 11.09.2023].

Die Autoren der Exempelgeschichten und der „Letzten Stunden“ haben versucht, die Lebensgeschichten anderer Menschen anschaulich zu schildern und narrativ auszuschmücken, um den Leserinnen und Lesern einen Abgleich mit den eigenen Lebenserfahrungen und den eigenen Empfindungen zu erleichtern. Die Abfassung dieser Lebens- und Sterbebeschreibungen lag dabei nicht nur in den Händen der Autoren; vielmehr verfassten die Verstorbenen zu Lebzeiten autobiographisches Material, welches Henckel, Rambach und Jerichow in ihre Sammlungen einfließen ließen, oder die Hinterbliebenen gaben Auskunft über das vorbildliche Sterben ihrer Angehörigen. Letzteres trifft insbesondere auf die „Letzten Stunden“ von Kindern zu, da diese zum Großteil nicht in der Lage waren, selbst autobiographische Zeugnisse zu hinterlassen.

Im Laufe des Praktikums habe ich außerdem auf Sekundärliteratur zurückgegriffen, um einen eigenen inhaltlichen Zugang zu den mir vorliegenden Quellen herausarbeiten zu können. In Anlehnung an Kelly Whitmers Forschung („Model children and pious desire in early Enlightenment philanthropy“) habe ich mich dazu entschieden, den inhaltlichen Fokus meiner weiteren Recherche auf Gefühle zu richten, die aus den handschriftlich und gedruckt überlieferten „Letzten Stunden“ von Kindern hervorgehen. Zusätzlich habe ich mich mit Affekttheorien aus dem 18. Jahrhundert auseinandergesetzt, welche vor allem im Halleschen Pietismus eine signifikante Rolle spielten.

Grob zusammengefasst konnte ich herausarbeiten, dass in pietistischen Kreisen nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben nach bestimmten vorgegebenen Mustern ablaufen sollte, um letztlich nach dem Tod die Gewissheit zu haben, vor dem Jüngsten Gericht freigesprochen zu werden und das ewige Leben bei Gott verbringen zu können. Das beim erstmaligen Lesen spontan wirkende Auftreten von bestimmten Gefühlen in gewissen Kontexten (v.a. Buße und Bekehrung) weicht bei einer intensiveren Lektüre und genaueren Analyse der „Letzten Stunden“ der Vermutung, dass diese Gefühle bewusst und gezielt in die Texte eingebaut wurden. Da es sich nicht um autobiographische Schriften handelt und somit das letzte Wort bei den Berichterstattenden liegt, kann nicht klar ausgesagt werden, ob sich die erwähnten Kinder in der Realität den Erwartungen ihres sozialen Umfeldes anpassten und erwünschte emotionale Verhaltensweisen internalisierten oder ob Verhaltensmuster innerhalb des Genres festgeschrieben wurden, um eine prospektive Formung kindlichen Verhaltens zu bewirken.

Insgesamt war das Praktikum definitiv eine bereichernde Erfahrung für mich. Ich habe Einblicke in verschiedenste Arbeitsfelder bekommen und gelernt, zielgerichtet in Katalogen, digitalen Datenbanken und Sammlungen zu recherchieren sowie Personenrecherchen durchzuführen. Durch die Arbeit an den Handschriften konnte ich meine Kurrentschrift-Kenntnisse auffrischen und ausbauen und mir ist wieder einmal bewusst geworden, wie viel Spaß ich an der Auseinandersetzung mit historischen (Schrift-)Quellen habe. Das Praxisprojekt hat mir Einblicke in ein sehr interessantes Forschungsfeld gegeben und ich kann mir gut vorstellen, mich in meiner Masterarbeit noch intensiver mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Zuletzt möchte ich mich noch bei Frau Dr. Klosterberg und Herrn Dr. Gröschl für die intensive Betreuung meines Praktikums und die anregenden Gespräche bedanken!

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