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Baptiste Baumann: Praktikum an der Edition Johann Caspar Lavater an der Universität Zürich

Im Vorfeld meiner Praxisphase habe ich versucht, die Wahl einer Einrichtung so gezielt wie möglich meinen beruflichen wie persönlichen Interessenschwerpunkten anzupassen. Auf diesem Weg habe ich das Spektrum der Partnerinstitutionen verlassen und wurde auf die Edition Johann Caspar Lavater    aufmerksam, die ihren Sitz am Deutschen Seminar der Universität Zürich hat. Die Erschließung und teilweise Veröffentlichung des Schrifttums des Zürcher Pfarrers Johann Caspar Lavater   (1741-1801) (s. Abb. 1) hat zum Ziel, die Vielfalt und die Bedeutung seiner schriftstellerischen Tätigkeit darzulegen und der neueren Forschung verlässliches Quellenmaterial zu geben. Aufgrund der unmittelbaren Wirkung, die Lavater sowohl im engeren Umfeld des aufklärerischen Zürich als auch im breiteren Kontext der deutschsprachigen Gelehrsamkeit des späteren 18. Jahrhunderts hatte, verstehe ich diese Edition als ein notwendiges Instrument der Aufklärungs-forschung.

Abb. 1 : Porträt von J. C. Lavater

Abb. 1 : Porträt von J. C. Lavater

Abb. 1 : Porträt von J. C. Lavater

Mit dem Abschluss der Werkedition in zehn Bänden fand Anfang 2017 sofort der Übergang zur Historisch-kritischen Edition ausgewählter Briefwechse   l statt, welche in erster Linie zur digitalen Veröffentlichung angelegt wird. Ich konnte folglich die Chance und die Herausforderung ergreifen, mich während des Praktikums (Anfang Februar bis Ende März 2017) an der Startphase einer digitalen Edition zu beteiligen. Meine Arbeit wurde durch Frau Dr. Caflisch-Schnetzler   , Leiterin der editorischen Arbeitsstelle, betreut. Zusammen mit ihr und auf ihren Vorschlag hin entwickelte ich mein Praktikumsprojekt vor Ort und unter Berücksichtigung der sich innerhalb der Edition ergebenden Aufgaben.

Mein Projekt bestand darin, ein erstes Muster für die Briefedition zu erstellen. Die Vorgehensweise war folgende: jede Phase der editorischen Arbeit wurde exemplarisch an zwei Briefen durchgeführt. Da die umfangreichste erhaltene Korrespondenz Lavaters, nämlich der Briefwechsel mit Johann Georg Zimmermann (1728-1795), den Editionsanfang bildet, wurden zwei Briefe aus diesem Konvolut ausgewählt: ein vierseitiger Brief Lavaters vom 18. Januar 1772 und Zimmermanns sechsseitige Antwort vom 3. Februar 1772 (s. Abb. 2). Die drei editorischen Hauptphasen waren: 1. Inventarisierung der Metadaten des Briefes (Absender, Adressat, Ort, Datum, Signatur); 2. vollständige Transkription sowie digitale Erschließung des Brieftextes und -paratextes anhand einer Transkriptionssoftware; 3. Verfassung des textkritischen Apparats und des Sachkommentars für die erklärungsbedürftigen Briefstellen.  Die frühe Erstellung eines solchen ‚Musterbriefwechsels‘ ist für eine Edition vorteilhaft:

Abb. 2: Musterbriefe, erste Seite im Vergleich (l. Lavater, r. Zimmermann).

Abb. 2: Musterbriefe, erste Seite im Vergleich (l. Lavater, r. Zimmermann).

Abb. 2: Musterbriefe, erste Seite im Vergleich (l. Lavater, r. Zimmermann).

Erstens konnten die (aus der Werkedition übernommenen) Editions- und Transkriptions-richtlinien an den Briefen geprüft und dem neuen Editionsprojekt angepasst werden. Zweitens sollten eine Übereinstimmung und Einheitlichkeit in der Vorgehensweise der Mitarbeiter und Hilfskräfte, zum Beispiel durch eine parallele Ausbildung der transkribierenden Hilfskräfte an den Musterbriefen, erreicht werden. Drittens wurden die Effizienz und die Einrichtung der gewählten Softwares (des Transkriptionsprogramms transcribo    und des Editionsprogramms FuD   ) auf ihre Angemessenheit hin laufend überprüft, damit die Edition ihre Anforderungen an die Software-Entwickler der Universität Trier regelmäßig mitteilen konnte. Viertens endlich soll auf diese Weise ein Modell der künftigen digitalen Edition geschaffen werden, das die geleistete Vorbereitung des Editionsprojektes wiedergibt und für die Förderinstitutionen (Schweizerisches NationalFonds, Lavater-Forschungsstiftung) sowie für weitere Fachinteressenten sichtbar macht. Dazu wurde nach dem Abschluss meiner Arbeit und anhand der ersten Inventarisierungsangaben eine vorläufige digitale Visualisierungsplattform    der späteren Edition (der sog. Demonstrator) geschaffen (s. Abb. 3).

Abb. 3: Beispielansicht des Demonstrators der Johann Caspar Lavater Briefedition

Abb. 3: Beispielansicht des Demonstrators der Johann Caspar Lavater Briefedition

Abb. 3: Beispielansicht des Demonstrators der Johann Caspar Lavater Briefedition

Meine zentrale Aufgabe bestand schließlich im Briefkommentar. Als Musterbriefen sollte den Texten ein ausführlicherer Kommentar gewidmet werden als in der endgültigen Ausgabe vorgesehen. Auf der einen Seite sollte der Kommentar also allgemein-einführende Anmerkungen zum Textverständnis enthalten, auf der anderen Seite musste ich alle nicht selbsterklärenden Textstellen möglichst deutlich anmerken. Dieser Teil des Praktikums verlangte ein tiefergehendes Hintergrundwissen, das ich mir ab der zweiten Woche erarbeiten konnte: Es wurde in Form einer erweiterten Bibliographie der Quellen- und Forschungsliteratur zusammengetragen. Da der Kommentartext bei aller Gründlichkeit selbstverständlich nicht allzu lang werden durfte, musste ich viel auf Quellenverweise und bibliographische Hinweise zurückgreifen. Zugleich veranlassten mich die einzelnen konkreten Briefstellen, die Bibliographie so breit wie möglich anzulegen; am Ende reichte sie von der Grundlagenliteratur zu Personen und Publikationen Lavaters und Zimmermanns bis zu so vielfältigen Themen als ‚Briefkultur‘, ‚Freundschaft ‘ und ‚Netzwerkforschung‘ – ‚Patriotische Gesellschaften‘ und ‚Landschulreformen‘ – ‚Zürcher Theologie‘ und ‚Berner Orthodoxie‘ – ‚Frömmigkeit‘ und ‚Aufklärungstheologie‘ – ‚Schweizer Heimweh‘ und ‚Medizinpraxis im 18. Jahrhundert‘ – ‚Zeitschriftenwesen‘ und ‚Medizinische Aufklärung‘ – ‚Porträtkunst‘ und ‚Biographischer Tempel‘. Diese Auflistung veranschaulicht bereits die Vielfältigkeit der in nur zwei Briefen angerissenen Themenfelder und vorausgesetzten Kontexte.

Begleitet wurde die bibliographische Recherche von einer regelmäßigen Handschriften-, v.a. aber Briefrecherche. Einerseits war die Transkription weiterer Briefe aus der Korrespondenz mit Zimmermann eine Voraussetzung für viele Kommentareinträge, andererseits hatte ich die Möglichkeit, Briefe von und an verschiedene andere Korrespondenten herauszusuchen, aus denen ich die dunkel gebliebenen Briefstellen nach und nach kommentieren konnte; diese erweiterte Briefrecherche führte mich an einigen Tagen in die Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, in der der gesamte Briefnachlass Lavaters aufbewahrt wird. Dabei erwies sich die netzwerkartige Struktur der Korrespondenzen des 18. Jahrhunderts als besonders relevante Komponente der Briefkommentierung.

Abschließend möchte ich noch ein aussagekräftiges Beispiel geben für die Bedeutung der Korrespondenz- und Netzwerkforschung während meines Praktikums.

Zunächst geht es um einen vergessenen Hannoverischen Freund Zimmermanns, Friedrich Arnold Klockenbring (1742-1795), der während einer Reise durch die Schweiz auf dessen Empfehlung mit Lavater in Zürich verkehrt. Die empfindsame Freundschaft, die zwischen Klockenbring und Lavater entsteht, ist etwa in den Briefen Lavaters an Zimmermann vom 19. Oktober 1771 und vom 18. Januar 1772 nachzulesen. Über Klockenbring selbst erfährt man aber am meisten aus dem biographischen Lexikon Heinrich Wilhelm Rotermunds Das gelehrte Hannover (2. Bd, Bremen 1823, S. 557): Dort liest man etwa, dass dieser seit 1769 mit der „Administration und Redaction der hannövrischen Anzeigen und des Magazins“ beauftragt war.

Das Hannoverische Magazin erscheint seit Ende der 1760er Jahre als eine bewusst aufklärerische Zeitschrift, die aktuelle Fragestellungen bespricht. In seiner Antwort vom 3. Februar 1772 schreibt Zimmermann unter anderem über seine jüngste Abhandlung und erwähnt beiläufig: „Auch ein anderer litterairischer Teüfel ist in mich gefahren; der aber nicht Schreibteüfel heisst. Klockenbring wird es dir sagen.“ Die Lösung dieses Rätsels gibt das 10. Stück des Hannoverschen Magazins, das neben Zimmermanns Abhandlung auch einen anonymen Aufsatz „Von der Physiognomik“ enthält (s. Abb. 4).

Abb. 4: [Lavater], „Von der Physiognomik.“

Abb. 4: [Lavater], „Von der Physiognomik.“

Abb. 4: [Lavater], „Von der Physiognomik.“

Zimmermann äußert sich bereits davor über den Text Lavaters mit den Worten: „Deine Physiognomik (ich habe Klockenbrings Handschrift mit einem Jubelgeschrey gelesen, und mit einer gantz unaussprechlichen Hochachtung für deinen Verstand und dein Hertz) kömmt mir Tag und Nacht nicht aus dem Sinne.“ Er bezieht sich offensichtlich auf eine abgeschriebene Fassung des ersten physiognomischen Textes seines Freunds, die dieser Klockenbring auf seine Reise nach Frankreich nachsandte. Der von Zimmermann ohne Lavaters Erlaubnis und Wissen veröffentlichte Aufsatz „Von der Physiognomik“ stammt also von ebendiesem Manuskript.

Passend dazu fand ich im Lavater-Nachlass den für den Kommentar wertvollen Brief Klockenbrings vom 16. Februar, in dem zu lesen ist: „In unsern Zimmermann ist ausser dem Schreibeteufel noch ein andrer litterarischer Teufel gefahren; [...] der Publicationsteufel. – Ich bringe Ihre Physiognomik als eine der schäzbarsten Acquisitionen von meiner Reise, nach Hannover, lese sie mit einer Art von Gewissenhafftigkeit nur den aufgeklärtesten und würdigsten Leuten vor [...] –  Zimmermann verlangt mehr von mir als die Vorlesung, er verlangt das Msc. [Manuscript] auf einige Tage. Durch Ihre mir ausdrücklich dazu gegebne Erlaubniß erhält er es, doch mit der Bedingung es ja nicht weiter zuzeigen, lässt es abschreiben und als ich schon in Hameln bin, sehe ich Ihre Physiognomik in unserm Magazin abgedrukt.“ (ZBZ FA Lav Ms 517, Nr. 62).

Aus diesem zuerst als Anekdote erscheinenden Beispiel lässt sich nun einerseits der früheste Beleg für Zimmermanns Rolle eines Förderers der Physiognomik ableiten, was dem allgemeinen Forschungsstand entspricht; andererseits werden weitere Persönlichkeiten beleuchtet, so der Herausgeber des Hannoverischen Magazins, Albert Christoph von Wüllen, der später als Nachdrucker einiger Werke Lavaters eine gewisse Rolle spielt, sowie der gemeinsame Freund Klockenbring, welcher als Vermittler an den Anfängen der großen physiognomischen Begeisterung der Jahre 1772-1775 teilhatte. Im Briefwechsel dieser Jahre sowohl als in der schriftstellerischen Karriere Zimmermanns und Lavaters spielte die beschriebene Konstellation um das Hannoverische Magazin eine in der bisherigen Forschung unterschätzte Rolle. Im Allgemeinen unterstreicht sie wiederum die Wichtigkeit der Vermittlungs- und Austauschpraxis im 18. Jahrhundert und deren an den Materialien orientierter Erforschung.

Baptiste Baumann

Abbildungsnachweise:

1) Felix Maria Diogg (1762–1834), Porträt von Johann Caspar Lavater, Öl auf Leinwand, ca. 1801, in: ZB Virtuelle Ausstellungen, „Zuflucht und Sehnsucht“ (URL: zb.uzh.ch/ausstellungen/exponat/007844/).

2) Musterbriefe, erste Seite im Vergleich (l. Lavater, r. Zimmermann), aus: Zentralbibliothek Zürich, FA Lav Ms 589d, Mappe 1, Brief Nr. 2 und FA Lav Ms 533, Brief Nr. 202.

3) Beispielansicht des Demonstrators der Johann Caspar Lavater Briefedition, 1. Musterbrief, Incipit (URL: http://tcdh01.uni-trier.de/Lavater/bootstrap-3.3.7-dist/displayLetter_jcLa_jgZi_1.html   ).

4) Anonym [Lavater], „Von der Physiognomik.“, in: Hannoverisches Magazin, Jg. 1772, 10. Stück, 3. Februar 1772, Sp. 145-146 (Digitalisat unter: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2105263_010/92/LOG_0023/   ).

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