Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Weiteres

Login für Redakteure

Ivan Ivashchenko: Praktikum an der Zweigbibliothek Europäische Aufklärung im IZEA der MLU Halle-Wittenberg

Handschriftliche Rezeptionsspuren in alten Drucken der IZEA-Bibliothek

Während meines Praktikums von Juni bis November 2014 in der Bibliothek des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) habe ich mit alten Drucken gearbeitet. Dabei wurden Bibliotheksbestände aus den folgenden Disziplinen berücksichtigt: Theologie, Philosophie, Pädagogik, Geschichte und Rechtswissenschaft. Insgesamt habe ich ungefähr 3000 Bände durchgesehen. Dabei habe ich 50 Bücher ausgewählt, die handschriftliche Rezeptionszeugnisse beinhalten. 23 Exemplare habe ich katalogisiert.

Zu Anfang meines Praktikums habe ich das Ziel und die damit verbundenen Aufgaben mit meinem Betreuer Dr. Frank Grunert bestimmt. Ziel des Praktikums war es, handschriftliche Rezeptionszeugnisse in alten Drucken des IZEA aufzufinden, zu beschreiben, zu kategorisieren und zu katalogisieren. Darüber hinaus ging es um die Klärung des inhaltlichen Verhältnisses zwischen den handschriftlichen Bemerkungen und dem gedruckten Text, d. h. die Bücher wurden untersucht, inwiefern der Leser des Buches auf den gedruckten Text reagiert hat. Schon im ersten Monat meines Praktikums habe ich festgestellt, dass es drei Arten von bearbeiteten alten Drucken in der Bibliothek des IZEA gibt, nämlich das gedruckte Buch, das durchschossene Buch und das gedruckte Buch mit eingebundenen Seiten am Anfang oder am Ende des Bandes.

Rezeptionsspuren: Beispiel für eine "Information"

Rezeptionsspuren: Beispiel für eine "Information"

Rezeptionsspuren: Beispiel für eine "Information"

Ein handschriftliches Rezeptionszeugnis, das im Mittelpunkt des Praktikums stand, stellt einen handschriftlich angebrachten Zusatz dar, den man am Rande der Seite, auf der durchschossenen Seite oder auf der eingebundenen Seite finden kann. Es gibt grundsätzlich fünf Arten von handschriftlichen Rezeptionsspuren, die ich in alten Drucken der IZEA-Bibliothek aufgefunden habe und die sich nach formalen und inhaltlichen Kriterien unterscheiden lassen. Nach formalen Kriterien (wie und wo wurden handschriftliche Bemerkungen angebracht) sind drei Arten von Rezeptionsspuren festzustellen: Unterstreichungen bzw. Hervorhebungen (Striche, NB u. ä.); punktuelle Berichtigungen des gedruckten Textes; handschriftliche Bemerkungen auf dem vorderen und dem hinteren Vorsatzblatt. Nach inhaltlichen Kriterien (auf welche Weise hat der Leser auf den Inhalt des Buches reagiert) lassen sich handschriftliche Randbemerkungen (Marginalien) und Kommentare bzw. Ergänzungen auf den durchschossenen Seiten unterscheiden. Solche Rezeptionszeugnisse bringen also ein epistemisches Verhältnis zwischen dem Leser und dem Buch zum Ausdruck. Dieses Verhältnis, das zugleich die Verwendungsweise des Buches darstellt, kann sich als Information, Interpretation und Modifikation zeigen.

Information. In manchen Exemplaren kommen handschriftliche Bemerkungen vor, die die Angaben im gedruckten Text mit einer Information erweitern, ohne diese Angaben inhaltlich zu interpretieren. Der Leser kann beispielsweise am Rande der Seite die Lebens- bzw. Regierungsdaten von einer im Text erwähnten historischen Figur oder das Datum eines historischen Ereignisses notieren. Auch finden sich bei Büchern ohne Inhaltsverzeichnisse Exemplare, in denen der Leser selbst eines verfasste, um sich die Orientierung zu erleichtern.

Interpretation. Während meiner Arbeit habe ich festgestellt, dass es in manchen, insbesondere durchschossenen Exemplaren von alten Drucken eine inhaltliche Reaktion des Lesers auf den gedruckten Text gibt. Eine solche Reaktion kann sich als Ausdeutung und Erweiterung seiner Ziele zeigen.

Beispiel für eine "Interpretation" in einem alten Druck

Beispiel für eine "Interpretation" in einem alten Druck

Beispiel für eine "Interpretation" in einem alten Druck

Modifikation. Es finden sich handschriftliche Bemerkungen, deren Autoren den gedruckten Text inhaltlich umzugestalten versuchen. In solchen Fällen handelt es sich vornehmlich um die Berichtigungen, wenn die Textangaben der Meinung des Lesers nach nicht stimmen (z. B. falsche Übersetzung, falsche Buchstabierung von fremden Namen, Druckfehler). In manchen Fällen prüft der Leser die Berechnungen des Autors, indem er seine eigenen Berechnungen am Rande der Seite durchführt.

Das Herzstück meines Praktikums machte das durchschossene Buch aus. Das durchschossene Buch ist ein Buch, in dem jeder Textseite ein weißes, unnummeriertes Blatt gegenüberliegt. Ein solches Exemplar konnte folgendermaßen genutzt werden: Ein Student konnte darin während der Vorlesung Notizen oder beim Selbststudium Vermerke eintragen. Ein Gelehrter konnte Anmerkungen für Vorlesungen machen oder Korrekturen für die Neuausgabe des Buches hinzufügen. Ein polemischer Leser konnte in einem solchen Buch seine Kritik zum Ausdruck bringen. Funktion des durchschossenen Exemplars, das für einen Aufpreis (d. h. ganz bewusst) bestellt werden konnte, lässt sich also nicht als marginal bestimmen. Ein solches Exemplar weist eine ganz andere Tendenz auf, indem der Inhalt des Buches als grundsätzlich ergänzungsbedürftig verstanden wurde. Mit anderen Worten: Das durchschossene Exemplar bot einen ‚physischen Raum‘ für eine eigenständige inhaltliche Auseinandersetzung. Dies weist auf eine aktive Rolle des Lesers hin: Er wird zu einem Mitgestalter des Buches, das sich in seinem Ergebnis vom ursprünglichen Buch unterscheidet und daher genaugenommen durch die produktive Rezeption des Lesers zu einem anderen geworden ist.

Beispiel für eine "Modifikation"

Beispiel für eine "Modifikation"

Beispiel für eine "Modifikation"

Die Arbeitsergebnisse des Praktikums lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Ich habe die typischen Verwendungsweisen eines gedruckten Buches im 18. Jahrhundert, wie oben ausgeführt, nach Information, Interpretation und Modifikation differenziert, wobei ich mich  in erster Linie mit dem durchschossenen Buch als Sonderfall beschäftigt habe.

2. Zudem erstellte ich eine kleine Buchpräsentation in der IZEA-Bibliothek, in der ich alle Typen mit markanten Beispielen belegte.

3. Ich habe die handschriftlichen Rezeptionszeugnisse in alten Drucken der IZEA-Bibliothek aufgesucht, beschrieben, kategorisiert und 23 Exemplare davon katalogisiert. Es handelt sich somit um einen Katalog, der erweitert und ergänzt werden kann. Dabei habe ich Bibliotheksbestände der folgenden Disziplinen durchsucht: Theologie, Philosophie, Pädagogik, Geschichte und Rechtswissenschaft.

4. Im Laufe des Praktikums habe ich mir die materiellen Aspekte der aufklärerischen Gelehrsamkeit vor Augen führen können.  Insbesondere anhand der durchschossenen Exemplare ist deutlich geworden, dass Bücher gelegentlich eigens präpariert wurden, um sie als Arbeitsmittel für die weitere Wissensproduktion zu nutzen. Die Erweiterung eines Buches durch die Zufügung weiterer, zunächst noch leerer Seiten bietet die materielle Voraussetzung für seine inhaltliche Erweiterung. Durchschossene und mit Ergänzungen versehene Bücher sind daher im günstigsten Fall geeignet, den Vorgang von Rezeption und Produktion nachvollziehbar werden zu lassen.

Abschließend möchte ich mich ganz herzlich bei dem wissenschaftlichen Betreuer meines Praktikums, Dr. Frank Grunert, für seine Hilfe und seine Ratschläge, aber auch bei den MitarbeiterInnen der IZEA-Bibliothek für ihre Hilfsbereitschaft bei organisatorischen Fragen bedanken.

Ivan Ivashchenko

Bilder:

  • oben: Johannes Friedrich Lüdeke: Tabvlae Synopticae In Theses Theologicas Sig. Iac. Bavmgarten Cvm Praefatione Eivsdem. Halae 1747. (Bibliothek des IZEA: Sign.: Ig 1939a)
  • Mitte: Gottfried Achenwall. Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen. Göttingen 1763. (Bibliothek des IZEA: Sign.: Lf 419)
  • unten: Johann Georg Meusel: Anleitung zur Kenntniß der Europäischen Staatenhistorie nach Gebauerscher Lehrart. Leipzig 1788. (Bibliothek des IZEA: Sign.: Na 1141 b)

Zum Seitenanfang